
Transiente Vorgänge bei Einfachrohrblattinstrumenten
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Project number: |
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| Project leader: | Dr. Vasileios Chatziioannou |
| Research facility: | Institute of Music Acoustics (IWK) University of Music and Performing Arts Vienna |
| Project Team: | Vasileios Chatziioannou, Alex Hofmann, Alexander Mayer, Montserrat Pàmies-Vilà |
| Cooperation partners: |
Computational Acoustic Modeling Laboratory, McGill University, Montreal |
| Date of approval: | 05.10.2015 |
| Project start: | 01.03.2016 |
| Project end: | 29.02.2020 |
| Project data: | mdw repository |
Zusammenfassung
Die Physik von Blasinstrumenten wird bereits seit dem vergangenen Jahrhundert intensiv erforscht. Ein tiefes Verständnis ihrer Funktionsweise wurde sowohl durch theoretische Modellierungen als auch durch computerbasierte Simulationen erreicht. Die meisten Prozesse, die bei der Erzeugung musikalischer Töne ablaufen, sind mittlerweile gut verstanden und können teilweise mithilfe physikalischer Modellierungstechniken reproduziert werden.
Von besonderem Interesse ist dabei die Kontrolle der Spielerin bzw. des Spielers über das Instrument und die Frage, wie bestimmte Spielhandlungen die entstehenden Schwingungen beeinflussen können. Diese Interaktion zwischen Musikerin/Musiker und akustischem Instrument wurde in jüngeren Akustik-Konferenzen als aktuelles Forschungsthema hervorgehoben. Sie bringt mehrere Herausforderungen mit sich – einerseits aufgrund der nichtlinearen Phänomene, die während solcher Interaktionen auftreten, und andererseits wegen der Schwierigkeit, präzise Messungen zur Charakterisierung der Kopplung zwischen Spieler und Instrument zu erhalten.
Messungen mit realen Musikerinnen und Musikern müssen so gestaltet werden, dass sie ein nicht-invasives Versuchsdesign verwenden, das ein möglichst natürliches Spielverhalten erlaubt. Messungen mit künstlichen Anregungssystemen können wertvolle Daten für die Analyse des Spielverhaltens liefern, vorausgesetzt, sie ahmen das menschliche Spiel realistisch nach. Die aus beiden Arten von Messungen gewonnenen Daten können anschließend zur Validierung physikalischer Modelle genutzt werden.
Durch die Kombination numerischer und experimenteller Untersuchungen, wie oben beschrieben, hat dieses Projekt zum besseren Verständnis der Spieleraktionen während der Artikulation bei Einfachrohrblattinstrumenten beigetragen. Ziel des Projekts war insbesondere:
* die Entwicklung eines zeitbereichsbasierten Modells eines Einfachrohrblattinstruments, das geeignet ist, transiente Schwingungen unter Berücksichtigung des Einflusses der Zunge zu erfassen, numerisch stabil ist und den Online-Zugriff auf Modellparameter ermöglicht [1, 2];
* die Entwicklung eines inversen Modellierungsalgorithmus, der auf transiente Signale angewendet werden kann, um Steuerparameter zu schätzen und gemessene Signale, die unter realen Spielbedingungen gewonnen wurden, mit einem nicht-invasiven, leicht reproduzierbaren Versuchsaufbau zu resynthetisieren [3, 4];
* den Einsatz inverser Modellierung und experimenteller Daten, um das Verständnis der nichtlinearen Phänomene im Anregungsmechanismus während Transienten zu vertiefen, einschließlich Blattaufschlag und Zungen-Blatt-Interaktion [2, 5, 6];
* die Bewertung, inwieweit Messungen unter künstlichen Blasbedingungen nützliche Daten über transiente Schwingungen und Zungenartikulation liefern können [7];
* die Verfeinerung des entwickelten Modells für Anwendungen in der Echtzeit-Klangsynthese, um eine präzise Resynthese von Transienten zu ermöglichen [8, 9].
Zur Erreichung dieser Ziele wurden weitere verwandte Themen untersucht, darunter:
die Entwicklung von Sensorblättern für in vivo- und in vitro-Messungen [10, 11, 12], die Entwicklung einer Steueroberfläche für ein physikalisches Modell eines Blasinstruments [13] sowie die Analyse der Effekte des Vokaltrakts beim Klarinetten- und Saxophonspiel [14, 15].
Im Verlauf der Studie konnte gezeigt werden, dass es möglich ist, einen Echtzeit-Algorithmus zur physikalischen Modellierung zu formulieren, der die von realen und künstlichen Bläserinnen und Bläsern erzeugten Wellenformen einschließlich Tonübergängen präzise resynthetisieren kann [2, 3, 4]. Während frühere Versuche der physikalisch basierten Klangsynthese meist nur qualitativ bewertet wurden, sollte bei neuen Anwendungen auf dem Stand der Technik nun eine quantitative Beurteilung angestrebt werden.
Darüber hinaus ermöglichte der Bau einer künstlichen Blasvorrichtung (einschließlich einer künstlichen Zunge) Experimente, die die Klangerzeugung menschlicher Spielerinnen und Spieler sehr gut nachbildeten – zumindest bei konventionellen Spieltechniken [7]. Eine Bedienungsanleitung für diese künstliche Blasvorrichtung wurde für die zukünftige Nutzung erstellt [16].
Unter Verwendung der Messdaten sowohl aus der künstlichen Blasvorrichtung als auch von menschlichen Spielerinnen und Spielern wurde ein inverses Modell entwickelt, um physikalische Modellparameter im Zusammenhang mit Artikulation zu extrahieren. Dies stellte den ersten derartigen Versuch mit transienten Signalen dar, da frühere Studien auf stationäre Klänge beschränkt waren. Die erzielten Ergebnisse sollten bei zukünftigen Resyntheseansätzen berücksichtigt werden, auch im Hinblick auf die Möglichkeit, die vorgeschlagene Methodik auf andere Arten von Musikinstrumenten zu übertragen.
Zur Untersuchung der Vokaltrakt-Effekte im Zusammenhang mit Transienten wurde eine Zeitbereichsanalyse durchgeführt, die auf zuvor entwickelten Frequenzbereichsverfahren basiert. Im Gegensatz zu früheren Berichten konnte gezeigt werden, dass Musikerinnen und Musiker ihren Vokaltrakt nicht nur bei außergewöhnlichen Spieltechniken einsetzen, sondern auch während des normalen Spiels [15]. Dies eröffnet neue Fragestellungen zur Spielweise von Instrumenten, insbesondere dort, wo die Aktionen der Spieler schwer zu beobachten oder zu quantifizieren sind.
Schließlich wurde im Rahmen der Stabilitäts- und Effizienzanalyse des entwickelten physikalischen Modells eine Methode formuliert, mit der sich die erforderliche Schrittanzahl für die Konvergenz eines iterativen Lösungsverfahrens vorab berechnen lässt [8]. Dies stellt ein wesentliches Werkzeug zur numerischen Lösung nichtlinearer Gleichungen dar – insbesondere für Echtzeitanwendungen.
Literatur
[1] S. Schmutzhard, V. Chatziioannou, and A. Hofmann. Parameter optimisation of a viscothermal time-domain model for wind instruments. In Proc. Int. Symp. Musical Acoustics, pages 27--30, Montreal, 2017. https://isma2017.cirmmt.mcgill.ca/proceedings/pdf/ISMA_2017_paper_7.pdf
[2] V. Chatziioannou, S. Schmutzhard, M. Pàmies-Vilà and A. Hofmann. Investigating Clarinet Articulation Using a Physical Model and an Artificial Blowing Machine. Acta Acustica united with Acustica 105 (4), 682-694, 2019. https://doi.org/10.3813/AAA.919348
[3] S. Schmutzhard, M. Pàmies-Vilà, A. Hofmann and V. Chatziioannou. Numerical simulation of transients in single reed woodwind instruments. In Proc. International Congress on Acoustics, 2019.
[4] V. Chatziioannou, S. Schmutzhard, A. Hofmann, and M. Pàmies-Vilà. Inverse modelling of clarinet performance. In Proc. International Congress on Sound and Vibration, 2019.
[5] V. Chatziioannou, A. Hofmann, and M. Pàmies-Vilà. An artificial blowing machine to investigate single-reed woodwind instruments under controlled articulation conditions. In Proc. Meetings on Acoustics, volume 31, page 035003, 2017. http://dx.doi.org/10.1121/2.0000794
[6] M. Pàmies-Vilà, A. Hofmann, and V. Chatziioannou. Analysis of tonguing and blowing actions during clarinet performance. Frontiers in psychology, 9:617, 2018. http://dx.doi.org/10.3389/fpsyg.2018.00617
[7] M. Pàmies-Vilà, A. Hofmann, and V. Chatziioannou. Reproducing tonguing strategies in single-reed woodwinds using an artificial blowing machine. The Journal of the Acoustical Society of America 145 (3), 1677, 2019; best student paper award.
[8] V. Chatziioannou, S. Schmutzhard, and S. Bilbao. On iterative solutions for numerical collision models. In 20th Int. Conf. Digital Audio Effects (DAFx17), Edinburgh, 2017. http://www.dafx17.eca.ed.ac.uk/papers/DAFx17_paper_76.pdf
[9] V. Chatziioannou, A. Hofmann and S. Schmutzhard. A real-time physical model to simulate player control in woodwind instruments. in Proc. International Symposium on Musical Acoustics, 2019.
[10] V. Chatziioannou, A. Hofmann, A. Mayer, and T. Statsenko. Influence of strain-gauge sensors on the vibrational behavior of single reeds. In Proc. Meetings on Acoustics, volume 28, page 035001, 2016
[11] A. Hofmann, V. Chatziioannou, A. Mayer, and H. Hartmann. Development of fibre polymer sensor reeds for saxophone and clarinet. In Proc. New Interfaces for Musical Expression, pages 65--68, Brisbane, 2016. http://www.nime.org/proceedings/2016/nime2016_paper0014.pdf
[12] M. Pamiès-Vilà, A. Hofmann, and V. Chatziioannou. Strain to displacement calibration for single-reeds using a high-speed camera. In Proc. Intern. Symp. Musical Acoustics, pages 5--8, Montreal, 2017. https://isma2017.cirmmt.mcgill.ca/proceedings/pdf/ISMA_2017_paper_8.pdf
[13] A. Hofmann, V. Chatziioannou, S. Schmutzhard, G. Erdoğan and A. Mayer. The Half-Physler: An oscillating real-time interface to a tube resonator model. In Proc. NIME19, 2019.
[14] M. Pàmies-Vilà, G. Scavone, A. Hofmann, and V. Chatziioannou. Investigating vocal tract modifications during saxophone performance. In Proc. Meetings on Acoustics, volume 31, page 035002, 2017; best student paper award. http://dx.doi.org/10.1121/2.0000758
[15] M. Pamies-Vila, A. Hofmann and V. Chatziioannou, Vasileios. The influence of the vocal tract on the attack transients in clarinet playing. Journal of New Music Research 49 (2), 126-135, 2020. https://doi.org/10.1080/09298215.2019.1708412
[16] A. Mayer and M. Pàmies-Vilà. RIAM 2.0 - Reed Instrument Artificial Mouth. A Blowing and Tonguing Device for Artificial Excitation of Single-Reed Woodwind Instruments, IWK Tech Report 1‐2023, 2023. DOI↗
